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Einfluss gewinnen: Lehren aus der internationalen Währungsgeschichte
Rede von EZB-Präsidentin Christine Lagarde anlässlich einer Veranstaltung des Jacques Delors Centre an der Hertie School zu Europas Rolle in einer fragmentierten Welt, Berlin
Berlin, 26. Mai 2025
Offenheit und Multilateralismus bildeten in den letzten 80 Jahren – federführend gestützt durch die USA – die Eckpfeiler einer florierenden Weltwirtschaft. Die Vereinigten Staaten setzten sich für ein regelbasiertes internationales System ein und verankerten den US-Dollar als globale Reservewährung. Damit ebneten sie den Weg für eine Ausweitung des Handels und der Finanzierungsströme.
Die Europäische Union profitierte immens von dieser Weltordnung, deren liberale Grundprinzipien sich mit ihren eigenen Werten deckten. Doch nun wird diese Weltordnung bis in ihre Grundfesten erschüttert.
An die Stelle der multilateralen Zusammenarbeit sind Nullsummendenken und bilaterale Machtspiele getreten. Nun heißt es: Protektionismus statt Offenheit. Selbst über die Vormachtstellung des US-Dollar als Eckpfeiler des Systems herrscht Unsicherheit.
Bei unveränderten Rahmenbedingungen kann diese Zäsur Risiken für Europa bergen. Unsere Wirtschaft ist tief in das globale Handelssystem integriert, wobei die Exporte fast ein Fünftel unserer Wertschöpfung ausmachen und 30 Millionen Arbeitsplätze absichern.
Jedwede Veränderung der internationalen Ordnung, die zu weniger Welthandel oder zu einer Aufsplittung in Wirtschaftsblöcke führt, wird negative Folgen für unsere Wirtschaft haben.
Gehen wir politisch geschickt vor, könnten sich allerdings auch neue Chancen auftun. Zeiten des Umbruchs könnten dem Euro die Möglichkeit eröffnen, künftig eine größere Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen.
Heute ist der Euro mit einem Anteil von rund 20 % an den Devisenreserven die zweitwichtigste Währung der Welt nach dem US-Dollar, dessen Anteil 58 % beträgt. Eine Stärkung der internationalen Rolle des Euro kann sich positiv auf den Euroraum auswirken.
So könnten Regierungen und Unternehmen in der EU günstigere Kredite aufnehmen, wodurch unsere Binnennachfrage in einer Zeit angekurbelt würde, in der auf die Auslandsnachfrage immer weniger Verlass ist.
Wechselkursschwankungen könnten uns dann weniger anhaben, da mehr Handel in Euro erfolgen und Europa somit vor volatileren Kapitalströmen geschützt würde.
Europa wäre besser gegen Sanktionen und andere Zwangsmaßnahmen gefeit.
Kurzum: Europa könnte sein Schicksal stärker selbst bestimmen – und bekäme einen Vorgeschmack von dem, was der frühere französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing vor 60 Jahren als „exorbitantes Privileg“ bezeichnete.
Doch wie sicher ist eine solche Entwicklung? Sie ist keineswegs selbstverständlich, wie wir aus Erfahrung wissen. Der Euro wird nicht automatisch an Einfluss gewinnen, sondern wird sich diesen erst verdienen müssen.
Wie lässt sich also der globale Status des Euro stärken? Die Geschichte zeigt, dass wir auf drei – für den Erfolg gleich wichtigen – Grundlagen aufbauen müssen.
Erstens muss Europa eine solide und glaubwürdige geopolitische Grundlage gewährleisten, indem es sich unbeirrt für einen offenen Handel stark macht, ihn entsprechend absichert und auch verteidigen kann.
Zweitens müssen wir unsere wirtschaftliche Grundlage festigen, um Europa zu einem erstklassigen Ziel für internationales Kapital zu machen. Tiefere und liquidere Kapitalmärkte werden dies unterstützen.
Drittens müssen wir unsere rechtliche Grundlage stärken, d. h. die Rechtsstaatlichkeit verteidigen und als politische Einheit auftreten, damit wir Druck von außen standhalten können.
Bevor wir uns mit diesen drei grundlegenden Komponenten befassen, wollen wir uns ansehen, was uns die jüngste Geschichte lehren kann.
Verschiebungen in der globalen Währungslandschaft
Verschiebungen in der globalen Währungslandschaft sind in der Währungsgeschichte nichts Neues. Schon mehrmals wurde die Vormachtstellung der global wichtigsten Reservewährung durch Handlungen des zugehörigen Staates infrage gestellt, ohne sie letztlich zu gefährden.
Mitte der 1920er-Jahre lief zum Beispiel der US-Dollar dem Pfund Sterling den Rang als weltweit führende Reservewährung ab. 1931 war der Anteil der US-Währung an den weltweiten Devisenreserven auf 64 % gestiegen. Dies hinderte die USA jedoch nicht daran, einseitig in die internationale Währungsordnung einzugreifen.
So setzte beispielsweise der damalige US-Präsident Roosevelt 1933 die Goldkonvertibilität aus, um die deflationären Kräfte der Weltwirtschaftskrise zu bekämpfen. Die Forderungen europäischer Länder nach festen Wechselkursen wies er mit dem Argument zurück, dass das gesunde interne Wirtschaftssystem eines Landes ein größerer Faktor für sein Wohlergehen sei als der Kurs seiner Währung.[1]
Und in den 1970er-Jahren beendete der damalige US-Präsident Nixon das Bretton-Woods-System, als er die Umtauschpflicht von US-Dollar in Gold einseitig aufgab und einen Einfuhrzoll von 10 % verhängte.
Angesichts größer werdender Ungleichgewichte zwischen den Leistungsbilanzdefiziten der USA und den Überschüssen Westeuropas und Japans erklärte der damalige US-Finanzminister John Connally, dass es nicht mehr gerechtfertigt sei, dass die Vereinigten Staaten aus Freundschaft, Notwendigkeit oder Kapazitätsgründen einen so hohen Anteil an den gemeinsamen Belastungen tragen.[2]
Beide Male wurde die Bedeutung des US-Dollar als globale Reservewährung geschwächt. In den 1930er-Jahren sank der Anteil des US-Dollar an den weltweiten Devisenreserven von über 60 % auf rund 20 %. In den 1970er-Jahren verringerte sich sein Anteil innerhalb zweier Jahrzehnte von etwa 70 % auf 50 %.
In beiden Fällen bot sich jedoch kurzfristig keine robuste Alternative zum US-Dollar an. In den 1930er-Jahren war die Bedeutung des Pfund Sterling bereits im Abnehmen begriffen. Und in den 1970er-Jahren waren die Märkte, auf die sich die D-Mark und der Yen stützten, schlichtweg zu klein.
Die Anleger bevorzugten stattdessen Gold. Der Anteil von Gold an den Währungsreserven erhöhte sich in den 1930er-Jahren um rund 20 Prozentpunkte auf 97 %. In den 1970er-Jahren verdoppelte sich sein Anteil nahezu auf 60 %.[3]
Heute gibt es einen entscheidenden Unterschied zu früheren Zeiten. Mit dem Euro als weltweit zweitwichtigste Währung gibt es neben dem US-Dollar eine weitere internationale Währung. Bislang sind die Anleger davon aber noch nicht überzeugt.
In den letzten Jahren ist der Anteil des US-Dollar an den weltweiten Devisenreserven zurückgegangen; sein derzeitiger Anteil von 58 % ist der niedrigste seit 1994. Parallel dazu haben die Zentralbanken Gold in Rekordhöhe angehäuft – ihre Bestände sind wieder fast so hoch wie zu Bretton-Woods-Zeiten.[4] Rund 20 % der weltweiten Währungsreserven entfallen nunmehr auf Gold.[5] Sein Anteil übersteigt damit jenen des Euro.[6]
Wie bereits erwähnt, können wir drei wesentliche Grundlagen für Weltwährungen ausmachen – ohne diese kann eine Währung auf globaler Ebene nicht erfolgreich sein. Und bei allen drei sehen wir, dass Europa im Besitz vieler der Schlüsselelemente für den Erfolg ist; aber wir müssen sie verknüpfen, um die Grundlagen zu stärken. Es ist an der Zeit zu handeln.
Die geopolitische Grundlage
Zunächst einmal bedarf es einer glaubwürdigen geopolitischen Grundlage. Diese beruht sowohl auf der Rolle eines Landes im Welthandel als auch auf der Stärke seiner militärischen Bündnisse.
Besonders wichtig für eine Währung ist, dass sie bei Handelsgeschäften zum Einsatz kommt. Dies ist der erste Schritt zu einer breiteren Nutzung auf internationaler Ebene. So überholte der US-Dollar Mitte der 1920er-Jahre das Pfund Sterling zuerst als wichtigste Währung für Handelskredite, bevor er zur führenden Reservewährung wurde.[7]
Sobald eine Währung größere Bedeutung als Fakturierungswährung erlangt, wirkt ihre Rolle im internationalen Bank- und Finanzwesen und schließlich als Reservewährung selbstverstärkend. Eine höhere Nachfrage nach der Währung stärkt ihre Rolle als Wertaufbewahrungsmittel und ermutigt Anleger weiter, sie zu halten.[8]
Als wichtiger Akteur im Welthandel verfügt Europa bereits über einen wichtigen Baustein einer starken geopolitischen Grundlage. Dies kann die Internationalisierung des Euro also fördern.
Die EU besitzt das weltweit größte Netz von Handelsabkommen. Für 72 Länder, auf die gemeinsam fast 40 % des weltweiten BIP entfallen, ist Europa der wichtigste Handelspartner.[9] Diese Bedeutung spiegelt sich auch im Anteil des Euro als Fakturierungswährung wider, der mit rund 40 % mehr als doppelt so hoch ist wie sein Anteil als Reservewährung.
Europa kann diesen Vorteil ausbauen, indem es weiterhin neue Handelsabkommen abschließt. Und wir sollten deutlich machen, dass wir beim Handel für einen „Win-Win-Ansatz“ stehen, der dafür sorgt, dass wir der attraktivste Handelspartner sind.
Die EZB kann ebenfalls dazu beitragen, den Euro als Handelswährung attraktiver zu machen. Wir überlegen, einen digitalen Euro auszugeben, und ergreifen Initiativen, um grenzüberschreitende Zahlungen in Euro zu verbessern. Dies könnte künftig auch internationale grenzüberschreitende Transaktionen erleichtern.
Durch unsere Swap- und Repo-Vereinbarungen mit wichtigen Partnern stellen wir sicher, dass die reibungslose Transmission unserer Geldpolitik nicht durch Euro-Liquiditätsengpässe im Ausland gestört wird, was wiederum diese Partner dazu anregt, Geschäfte vermehrt in Euro abzuwickeln.
Einem möglichen Bedeutungsgewinn einer Währung allein durch Handelsoffenheit sind allerdings Grenzen gesetzt. Tatsächlich ist der Anteil des Euro an der weltweiten Fakturierung von Exporten bereits so hoch wie der Anteil des US-Dollar. In puncto Bedeutung als Reservewährung hinkt der Euro aber weiter hinterher.
Das liegt daran, dass Anleger – insbesondere staatliche – sich auf zusätzliche Weise geopolitisch absichern möchten. Sie investieren in die Vermögenswerte von Regionen, die verlässliche Sicherheitspartner sind und ihre Verpflichtungen mit harter Macht wahrnehmen können. Daher muss eine glaubwürdige geopolitische Grundlage auch auf robusten militärischen Partnerschaften beruhen.
Diese doppelte Stärke ist das Wichtigste, was wir aus der Dominanz des US-Dollar lernen können. Sie ist nicht nur ein Produkt wirtschaftlicher Fundamentaldaten, sondern wird auch durch US-Sicherheitsgarantien kräftig verstärkt. Diese Garantien vertiefen nicht nur die Handelsbeziehungen,[10] sondern erhöhen auch nachweislich den Anteil einer Währung an den Währungsreserven um bis zu 30 Prozentpunkte.[11]
Derzeit erleben wir einen großen Umbruch in Europa, das intensiv daran arbeitet, seine harte Macht wiederaufzubauen. Dafür sind auf nationaler und auf EU-Ebene wichtige Initiativen im Gang. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Fortsetzung dieser Bemühungen eine Voraussetzung dafür ist, dass der Euro stärker genutzt wird.
Die wirtschaftliche Grundlage
Handels- und militärische Macht tragen entscheidend dazu bei, dass eine Währung international nachgefragt wird. Um die Nachfrage dann zu bedienen, braucht es aber geeignete Vermögenswerte, in die investiert werden kann.
Aus diesem Grund ist eine starke wirtschaftliche Grundlage, die sowohl Wachstumschancen bietet als auch Investitionen in dieses Wachstum ermöglicht, ebenso entscheidend.
Denn zwischen Wachstum, den Kapitalmärkten und der Verwendung internationaler Währungen besteht ein positiver Zusammenhang. Wachstum sorgt für robuste Renditen, die es wiederum für Anleger attraktiver machen, Vermögenswerte in einer bestimmten Währung zu halten. Die Kapitalmärkte bieten Investitionsgelegenheiten und führen Mittel wachstumsförderlichen Verwendungszwecken zu.
Gibt es an den Kapitalmärkten genügend sichere Vermögenswerte, können Anleger ihre Positionen effizient absichern. Kommt es zu einem Schock, und verlieren riskantere Investitionen an Wert, legen die sicheren Vermögenswerte der Anleger an Wert zu. Es gibt also ein komplettes Ökosystem für Investitionen in eine Währung.
Dass der US-Dollar in der Zwischenkriegszeit die Vormachtstellung errang, war mit Sicherheit auch dieser Konstellation geschuldet. Die Entwicklung der US-Kapitalmärkte kurbelte das Wachstum an, wobei eine Verbesserung der Marktkapitalisierung um 1 Prozentpunkt die Wirtschaft um jeweils 0,5 Prozentpunkte wachsen ließ.[12] Gleichzeitig wurde der Grundstein für die Vorherrschaft des US-Dollar gelegt. Dank der Tiefe und Liquidität des US-Staatsanleihemarkts konnten sich wiederum Anleger effizient absichern.
Europa verfügt über alle Faktoren, die es für eine ähnliche Konstellation braucht. Allerdings ist es uns bislang nicht gelungen, alle Faktoren miteinander zu verknüpfen.
Trotz der Größe unseres Binnenmarkts sind wir bei der Wachstumsleistung und bei den Marktrenditen hinter die Vereinigten Staaten zurückgefallen. Dort ist die Arbeitsproduktivität je Stunde vor allem dank des Technologiesektors seit 2000 doppelt so stark gestiegen wie im Euroraum. Und an den US-Märkten wurde im Vergleich zu den europäischen Märkten rund das Fünffache an Renditen erzielt.[13]
Trotz der beachtlichen Höhe der verfügbaren Ersparnisse fehlt es noch an der nötigen Integration unserer Kapitalmärkte, damit ein größerer Teil unserer Mittel in wachstumsfördernde Projekte fließen kann. 60 % der Anlagen privater Haushalte verbleiben im eigenen Land, selbst wenn im Ausland bessere Investitionsmöglichkeiten winken.
Und trotz unserer insgesamt soliden Haushaltslage – mit einem Schuldenstand von 89 % des BIP (USA: 124 %) – ist unser Angebot an sicheren Vermögenswerten verhältnismäßig gering. Jüngsten Schätzungen zufolge belaufen sich die ausstehenden Staatsanleihen mit einem Rating von mindestens AA in der EU auf knapp unter 50 % des BIP (USA: über 100 %).[14]
Was das Fazit für Europa sein muss, ist klar: Wenn uns ernsthaft daran gelegen ist, dass der Euro international eine größere Rolle spielt, müssen wir zuallererst die Binnenwirtschaft reformieren.
Wir müssen also jene Prioritäten vorantreiben, die in den jüngsten Berichten aufgezeigt werden, d. h. den Binnenmarkt vollenden, gute Bedingungen für Startups schaffen, Bürokratie abbauen sowie die Spar- und Investitionsunion aufbauen. Hier müssen wir einen fragmentarischen Ansatz vermeiden, bei dem wir Fortschritte bei für uns einfachen Themen machen, aber vor kniffligen Aufgaben zurückscheuen. Andernfalls werden wir nie von der positiven Selbstverstärkung profitieren.
Zudem sprach noch nie so viel für ein gemeinsames Handeln Europas wie in unserer neuen geopolitischen Landschaft.
Selbstverständlich müssen alle Länder dafür sorgen, dass ihre Politik auf nationaler Ebene das Wachstum fördert. Uns muss aber auch klar sein, dass Fragmentierung kontraproduktiv ist. Wir sind uns beispielsweise alle einig, dass Europa seine strategischen Industrien aufbauen muss, um sich vor übermäßigen Abhängigkeiten zu schützen. Dies betonen auch Mario Draghi und Enrico Letta in ihren kürzlich vorgelegten Berichten. Wenn aber jedes der 27 EU-Länder eine unterschiedliche Strategie für diese Industrien hat, wird uns dies nicht gelingen.
Ferner gibt es heutzutage auch mehr politische Ziele, die europäische öffentliche Güter sein könnten, allen voran die Verteidigung. Wegen des Trittbrettfahrer-Problems dürfte die Verteidigung allerdings ein nicht ausreichend ausgestattetes Gut sein. Beschaffen wir außerdem die Ausrüstung gemeinsam und entwickeln wir neue Technologien zusammen, brächte uns dies Skaleneffekte und mehr Interoperabilität. Dies wäre operativ viel wirkungsvoller als 27 verschiedene Ansätze.
Unser ökonomischer Verstand sagt uns, dass öffentliche Güter gemeinsam finanziert werden müssen. Und genau diese gemeinsame Finanzierung könnte Europa die Basis liefern, um sein Angebot an sicheren Vermögenswerten sukzessive auszubauen.
Die rechtliche Grundlage
Geopolitische Stärke und schnelleres Wachstum können die internationale Rolle des Euro nachhaltig festigen. Doch die Nachfrage nach dem Euro wird auch davon abhängen, ob wir in der Lage sind, eine solide rechtliche und institutionelle Grundlage aufrechtzuerhalten.
Letztlich kommt eine Währung nur als internationale Reservewährung infrage und kann sich längerfristig behaupten, wenn die hinter ihr stehenden Institutionen und deren Politik konsequent dafür sorgen, dass Anleger darauf vertrauen können, dass der Wert der Währung langfristig stabil bleibt.[15]
So basierte die Vorherrschaft der US-Währung bislang auf der Stärke und Stabilität der fiskal- und geldpolitischen Institutionen in den Vereinigten Staaten. Die glaubwürdige Verpflichtung der US-Notenbank, die Inflation unter Kontrolle zu halten, in Verbindung mit der beispiellosen Liquidität des US-Staatsanleihemarkts schuf den Eindruck eines minimalen Staatsrisikos. Daher war der Dollar inmitten globaler wirtschaftlicher Turbulenzen und Rezessionen ein sicherer Hafen.[16]
Seit 1970 gab es weltweit 34 gleichzeitige Staatsschulden- und Finanzkrisen. Die Vereinigten Staaten sind von solchen Zwillingskrisen jedoch verschont geblieben.[17]
Kommt einmal Unsicherheit bezüglich der Stabilität des rechtlichen und institutionellen Rahmens auf, hat dies unweigerlich Konsequenzen für die Nutzung einer Währung.
Seit dem 2. April 2025 schlägt sich diese Verunsicherung in höchst ungewöhnlichen Korrelationen zwischen verschiedenen Vermögenswerten nieder – US-Dollar und US-Staatsanleihen werden selbst bei sinkenden Aktienkursen verkauft. Anleger, die nun wieder Gold kaufen, führen derartige Bedenken ebenfalls ins Treffen: Zwei Fünftel von ihnen geben an, das Edelmetall als Absicherung gegen steigende geopolitische Risiken zu erwerben.[18]
Vor diesem Hintergrund kann die EU ihre Verpflichtung zu vorhersehbarer Politik und Rechtsstaatlichkeit in einen Wettbewerbsvorteil umwandeln.
Diese Verpflichtung ist Teil der DNA der EU. Der Vorteil unserer oft langsamen und komplexen Entscheidungsfindung ist, dass wir stets das Element der Kontrolle und Gegenkontrolle gebührend berücksichtigen. Zudem haben wir die Unabhängigkeit unserer zentralen Institutionen wie der EZB rechtlich verankert, sodass es schwierig für die Politik ist, diese Unabhängigkeit zu bedrohen.
Es reicht jedoch nicht, sich darauf zu verlassen, dass unsere bürokratischen Systeme sich nur schwer ändern lassen. Im heutigen geopolitischen Umfeld sind wir einem zunehmenden Druck von außen ausgesetzt, Maßnahmen zu ergreifen, die die Rechtsstaatlichkeit gefährden. Wir werden diesem Druck nur standhalten können, wenn wir politisch noch geschlossener zusammenstehen und es uns gelingt, mit einer Stimme zu sprechen.
Da wir möglicherweise in eine neue Ära von Machtkämpfen zwischen den Großmächten eintreten und Länder aufgefordert werden, Partei zu ergreifen, werden wir wahrscheinlich unter Druck geraten, Entscheidungen zu treffen, die nicht unbedingt in unserem Interesse liegen.
Wenn wir diese Gelegenheit aber nutzen, um unsere institutionelle Struktur zu einen – und vorzugsweise zu reformieren, indem wir mehr qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in Bereichen ermöglichen, in denen ein einzelnes Veto die kollektiven Interessen der 26 anderen Länder oft behindert hat, würde uns das in die Lage versetzen, entschlossen als geeintes Europa zu handeln. Wir wären dann in einer viel stärkeren Position, um unsere Werte und das weltweite Vertrauen in unsere Währung zu verteidigen und zu wahren.
Schlussfolgerung
Ich komme nun zum Schluss meiner Ausführungen.
In der Geschichte des internationalen Währungssystems gibt es Momente, in denen die einst für unverrückbar gehaltenen Fundamente ins Wanken geraten.
Der belgischstämmige US-Ökonom Robert Triffin hat dies mit großer Weitsicht erkannt. Er merkte an, dass das Vertrauen der Länder in das internationale Währungssystem von der Zuverlässigkeit der Reservewährung abhängt. Und für diese sind seiner Erkenntnis nach in hohem Maße die Entscheidungen der einzelnen Länder entscheidend.
Aus Veränderungen können sich aber immer auch Chancen ergeben. Angesichts des derzeitigen Wandels scheint die Zeit reif zu sein für eine größere internationale Rolle des Euro.
Dies ist eine hervorragende Gelegenheit für Europa, sein eigenes Schicksal stärker zu beeinflussen. Es ist aber kein Privileg, das uns einfach so geschenkt wird. Wir müssen es uns verdienen.
Siehe F. D. Roosevelt, Wireless to the London Conference, Nachricht an die Londoner Wirtschaftskonferenz, 3. Juli 1933.
Für den Anteil an den bekannten Währungsreserven in 24 Ländern siehe B. Eichengreen, Exorbitant Privilege: The Rise and Fall of the Dollar and the Future of the International Monetary System, Oxford University Press, New York, 2011.
Siehe B. Eichengreen und M. Flandreau, The rise and fall of the dollar (or when did the dollar replace sterling as the leading reserve currency?), in: European Review of Economic History, Bd. 13, Ausgabe 3, 2009, S. 377–411, 2009; B. Eichengreen, L. Chiţu und A. Mehl, Stability or Upheaval? The Currency Composition of International Reserves in the Long Run, in: IMF Economic Review, Bd. 64, Ausgabe 2, S. 354–380, 2016.
2024 erwarben die Zentralbanken über 1 000 Tonnen Gold, d. h. doppelt so viel wie im Durchschnitt der vorangegangenen zehn Jahre. Die weltweiten Goldbestände der Zentralbanken liegen nun bei 36 000 Tonnen und damit in der Nähe des historischen Höchststands von 38 000 Tonnen, der 1965 während der Bretton-Woods-Ära erreicht wurde.
Zu Marktpreisen.
Siehe EZB, The international role of the euro, erscheint im Juni 2025.
Siehe A. Mehl, M. Mlikota und I. Van Robays, How is a leading international currency replaced by another? Old versus new evidence, The international role of the euro, EZB, Juni 2023.
G. Gopinath und J. C. Stein, Banking, Trade, and the Making of a Dominant Currency, NBER Working Paper Series, Nr. 24485, National Bureau of Economic Research, April 2018.
Siehe Europäische Kommission, Ein Kompass für eine wettbewerbsfähige EU, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, COM(2025) 30 final, Brüssel, 29. Januar 2025.
Siehe B. Eichengreen, A. Mehl und L. Chiţu, Mars or Mercury redux: The geopolitics of bilateral trade agreements, in: The World Economy, Bd. 44, Ausgabe 1, S. 21–44, 2021.
Siehe B. Eichengreen, A. Mehl und L. Chiţu , Mars or Mercury? The geopolitics of international currency choice, in: Economic Policy, Bd. 34, Ausgabe 98, S. 315–363, 2019.
Siehe R. Czupryn und L. Wójtowicz, The Influence of the Capital Market on Economic Growth in the USA, in: Central European Review of Economics & Finance, Bd. 35, Ausgabe 4, S. 5–14, 2021.
Der S&P 500 konnte um beeindruckende 568 % zulegen, während das Wachstum des Euro STOXX 50 im gleichen Zeitraum mit 115 % vergleichsweise bescheiden ausfiel.
Siehe T. Bletzinger, W. Greif und B. Schwaab, The safe asset potential of EU-issued bonds, VoxEU, Centre for Economic Policy Research, 20. Januar 2023.
Siehe A. Iancu et al., Reserve Currencies in an Evolving International Monetary System, in: Departmental Papers, Ausgabe 20/002, Internationaler Währungsfonds, 17. November 2020.
Siehe L. Goldberg, S. Krogstrup, J. Lipsky und H. Rey, Why is financial stability essential for key currencies in the international monetary system?, VoxEU, Centre for Economic Policy Research, 26. Juli 2014.
Unter „Finanzkrise“ ist eine Banken- und/oder Währungskrise zu verstehen. Siehe L. Laeven und F. Valencia, Systemic Banking Crises Database II, in: IMF Economic Review, Ausgabe 68, S. 307–361, 2020.
Siehe EZB, a. a. O.
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