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Christine Lagarde
The President of the European Central Bank
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Preisstabilität und geldpolitische Transmission im Euroraum

Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, anlässlich des ECB Forum on Central Banking 2022, Challenges for monetary policy in a rapidly changing world, Sintra, Portugal

Sintra, 28. Juni 2022

Im Euroraum haben wir eine unerwünscht hohe Inflation, und den Projektionen zufolge dürfte das auch noch eine Zeit lang so bleiben. Das ist eine enorme Herausforderung für die Geldpolitik.

Als Reaktion auf die geänderten Inflationsaussichten haben wir seit Dezember letzten Jahres konsequent unsere Geldpolitik normalisiert und unseren Kurs schrittweise angepasst.

Die Nettoankäufe im Rahmen unserer Programme werden diese Woche enden. Wir beabsichtigen, unsere Leitzinsen im Juli das erste Mal seit elf Jahren anzuheben. Und wir haben einige Hinweise zu unserer geldpolitischen Sitzung im September und dem von uns angestrebten Zinspfad gegeben.

Wir werden diesen Normalisierungskurs fortsetzen – und wir werden so weit gehen wie erforderlich, um eine Stabilisierung der Inflation bei unserem Zielwert von 2 % auf mittlere Sicht sicherzustellen.

Wie Victor Hugo gesagt haben soll, ist die Ausdauer das Geheimnis aller Triumphe.

Allerdings unterscheidet sich der Euroraum aus zwei wesentlichen Gründen von einigen anderen größeren Volkswirtschaften, und wir müssen die Normalisierung daran ausrichten.

Erstens wird die Inflation im Euroraum heute von einer komplexen Mischung aus Faktoren bestimmt, die zum Teil mit unseren Wirtschaftsstrukturen und unseren strategischen Abhängigkeiten zusammenhängen. Das sorgt für Ungewissheit darüber, wie schnell die Inflation wieder auf unseren mittelfristigen Zielwert zurückkehrt.

In diesem Umfeld müssen wir entschlossen und nachhaltig handeln und unsere Grundsätze des Gradualismus und der Optionalität berücksichtigen. Das bedeutet, dass wir bei ungewissen Aussichten graduell vorgehen, aber mit der Option, bei einer Verschlechterung der mittelfristigen Inflationsaussichten entschlossen zu handeln, insbesondere wenn es Anzeichen für eine Entankerung der Inflationserwartungen gibt.

Zweitens ist die institutionelle Struktur des Euroraums einzigartig. Sie basiert auf 19 noch nicht vollständig integrierten nationalen Finanzmärkten und der einzelstaatlichen Finanzpolitik von 19 Ländern – bei begrenzter Koordination. Damit einher geht das Risiko einer uneinheitlichen Transmission unserer Geldpolitik in der Union.

Und deshalb betonen wir immer wieder, dass Flexibilität ein wesentlicher Bestandteil der Normalisierung unserer Geldpolitik ist. Flexibilität ist unerlässlich, damit wir in einem von zu hoher Inflation geprägten Umfeld den erforderlichen geldpolitischen Kurs umsetzen und Preisstabilität wahren können.

Heute möchte ich darüber sprechen, wie die Wirtschaft im Euroraum aktuell einer Kombination von Schocks ausgesetzt ist, wie unser geldpolitischer Kurs auf die mit diesen Schocks verbundenen Herausforderungen reagieren sollte und wie wir die geldpolitische Transmission im gesamten Euroraum aufrechterhalten können.

Schocks für die Wirtschaft des Euroraums

Hinter der Inflation stehen vereinfacht gesagt zwei verschiedene Arten von Schocks.

Der ursprüngliche Grund für die Inflation liegt in einer außerordentlichen Reihe externer Schocks.

Störungen der globalen Lieferketten gepaart mit einer rasch anziehenden globalen Nachfrage haben die Preise für Industrieerzeugnisse entlang der Preiskette in die Höhe schnellen lassen.[1] Die Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage an den globalen Energiemärkten hat steigende Energiepreisen im Euroraum zur Folge. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat diese beiden Faktoren noch verstärkt und weltweit die Nahrungsmittelpreise in die Höhe getrieben.

Aufgrund seiner Abhängigkeit von Energieimporten wirken sich diese Schocks sehr stark auf das Eurogebiet aus.[2] Die aktuelle Teuerung bei Nahrungsmitteln und Industrieerzeugnissen ist so hoch wie seit Mitte der 1980er-Jahre nicht mehr.[3] Und der Anstieg der relativen Energiepreise in den letzten Monaten ist deutlich höher als die einzelnen Preissprünge in den 1970er-Jahren.

Energie, Nahrungsmittel und Industrieerzeugnisse zusammengenommen machen rund 80 % der Gesamtinflationsrate seit Beginn dieses Jahres aus.

Der zweite Faktor, der die Inflation antreibt und der sich in den letzten Monaten verstärkt hat, ist die sich erholende Binnennachfrage, seit die Wirtschaft nach der Pandemie wieder hochgefahren wurde.

Mit der Aufhebung von Beschränkungen verlagern sich die Ausgaben von den Waren zurück zu den Dienstleistungen. Gleichzeitig erweist sich die aufgestaute Nachfrage nach Tourismus- und Freizeitaktivitäten als unerwartet kräftig. Infolge dieser Erholung der Ausgaben legte die Inflation bei Dienstleistungen auf 3,5 % im Mai zu – der höchste Stand seit Mitte der 1990er-Jahre. Der stärkste Preisanstieg war dabei in den kontaktintensiven Bereichen zu verzeichnen.

Diese Schocks, insbesondere die kräftig anziehenden Energiepreise, führen zu einer sehr hohen kurzfristigen Inflation. Sie sind zudem verantwortlich dafür, dass wir unsere mittelfristigen Inflationsprognosen deutlich nach oben korrigiert haben. Laut den von Fachleuten des Eurosystems erstellten Projektionen vom Juni liegt die Inflation über den gesamten Projektionszeitraum hinweg bei einem Wert oberhalb von 2 % und kehrt bis 2024 auf einen Wert leicht über unserem mittelfristigen Ziel zurück.

Die Persistenz der Inflation

Umfang und Komplexität dieser Schocks führen jedoch auch zu Unsicherheit darüber, wie lange diese Inflation anhalten dürfte.

Wir haben es nicht einfach mit einem allgemeinen Nachfrageüberhang oder einer allgemeinen konjunkturellen Überhitzung zu tun. In einer solchen Situation wäre die Entwicklung der mittelfristigen Inflation eher absehbar gewesen. Trotz der Erholung bei den Dienstleistungen liegen die privaten Konsumausgaben nach wie vor mehr als 2 % unter ihrem Vorpandemieniveau. Und die Investitionstätigkeit ist nach wie vor gedämpft.

Obwohl es in den letzten Monaten erste Anzeichen für Korrekturen auf Werte oberhalb des Inflationsziels gab, liegen die längerfristigen Inflationserwartungen derzeit über eine Reihe von Messgrößen hinweg bei rund 2 %. Das bestätigt unsere Basisprojektionen, denen zufolge sich die Inflation wieder unserem mittelfristigen Inflationsziel annähern wird.

Unterdessen verstärkt sich der Inflationsdruck über die Binnenwirtschaft und gewinnt an Breite. Bei fast vier Fünftel der Positionen im Warenkorb war im April ein Preisanstieg von über 2 % zu verzeichnen, und dies lässt sich nicht nur auf hohe Importpreise zurückführen. Ein neuer EZB-Indikator für die binnenwirtschaftliche Inflation, der Positionen mit einem hohen Importgehalt ausklammert, beläuft sich derzeit auf über 3 %.[4]

Vor diesem Hintergrund müssen wir verstehen, wie dauerhaft der binnenwirtschaftliche Preisdruck voraussichtlich sein wird. Hier sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen.

Erstens beginnt sich die Inflation im Dienstleistungssektor festzusetzen, der starrsten Komponente der Inflation mit einem höheren Gewicht als Waren.[5]

Zweitens befindet sich die Arbeitslosigkeit im Euroraum auf einem historischen Tiefstand.[6] Über alle Sektoren hinweg besteht ein Arbeitskräftemangel und die Indikatoren der Arbeitskräftenachfrage bleiben hoch. Diese zunehmend angespannte Lage am Arbeitsmarkt sowie der Aufholeffekt infolge der hohen Inflation sprechen dafür, dass das Lohnwachstum anziehen wird. Unseren jüngsten Prognosen zufolge wird sich das Lohnwachstum[7] in den Jahren 2022 und 2023 auf über 4 % und 2024 auf 3,7 % belaufen – fast doppelt so viel wie der historische Durchschnitt vor der Pandemie.

Drittens gehen wir aufgrund dieser Faktoren in unseren Projektionen von einer Kerninflation von 2,3 % im Jahr 2024 aus, und im Euroraum ist die Kerninflation in der Regel ein Indikator für die Entwicklung der Gesamtinflation auf mittlere Sicht.

Wir sehen auch Hinweise darauf, dass die Angebotsschocks in der Wirtschaft länger andauern könnten. Zwar ist davon auszugehen, dass sich die Störungen der globalen Lieferketten allmählich auflösen, allerdings bleiben die Aussichten für Energie und Rohstoffe eingetrübt.

Ein Ende des Russland-Ukraine-Krieges ist noch nicht in Sicht, und es besteht nach wie vor das Risiko von Unterbrechungen der Versorgung sowie aus diesem Grund fortgesetzt hohen Energiepreisen. Dies könnte sich direkt auf die Inflation auswirken, wenn die Energiekosten weiter steigen, oder indirekt, wenn höhere Energiepreise dazu führen, dass bestimmte Industriezweige unrentabel werden und es zu dauerhaften Einbußen bei der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit kommt.

Der Krieg dürfte auch den grünen Wandel in Europa beschleunigen, da er eine Möglichkeit darstellt, unsere Energiesicherheit zu stärken. Langfristig sollte dies zu niedrigeren Energiekosten in Europa führen. In der Zwischenzeit könnten jedoch Preissteigerungen bei seltenen Mineralien und Metallen[8], höhere Kosten für Investitionen in saubere Technologien und eine Ausweitung von CO2-Bepreisungssystemen die Folge sein.[9]

Unsicherheit über das Wachstum

Diese Schocks haben jedoch auch Folgen für das Wachstum und können insofern die mittelfristigen Inflationsaussichten belasten. Was können wir in dieser Hinsicht also aktuell beobachten?

Die externen Angebotsschocks wirken sich auf das Ausgabeverhalten aus. Steigende Importpreise stellen eine Terms of Trade-„Steuer“ dar, die die Gesamteinnahmen der Wirtschaft verringert.

Die Realeinkommen privater Haushalte schrumpfen. Das Wachstum der Reallöhne war in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen negativ. Verbraucherumfragen zufolge rechnen die privaten Haushalte mit einem weiteren Rückgang ihrer Realeinkommen und Konsumausgaben über die nächsten zwölf Monate.

Die Firmen versuchen, durch Preiserhöhungen ihre Margen zu sichern, schieben wegen des unsicheren Umfelds aber auch Investitionsentscheidungen auf. Und auch das Umsatzwachstum scheint sich abzuschwächen. Die aktuellen Einkaufsmanagerindizes deuten darauf hin, dass es beim Neugeschäft kein weiteres Wachstum geben wird, und der Indikator für die Geschäftserwartungen in einem Jahr hat den niedrigsten Stand seit Oktober 2020 erreicht.

Die Ausgaben werden unterdessen durch die vollständige Wiedereröffnung des Dienstleistungssektors und den daraus resultierenden Nachfrageschub gestützt. Der Konsum profitiert von der Pufferwirkung der hohen Ersparnisse, die die privaten Haushalte während der Pandemie angehäuft haben, den staatlichen Stützungsmaßnahmen und der anhaltenden Stärke des Arbeitsmarkts, die die Arbeitseinkommen insgesamt unterstützt.

Wenn die Angebotsschocks aber anhalten und die Inflation weiterhin deutlich höher ist als das Lohnwachstum, dann könnten sich die Verluste beim realen Einkommen verstärken und den Puffer der überschüssigen Ersparnisse abschmelzen lassen. Die daraus resultierenden Folgen für die Nachfrage könnten die Widerstandsfähigkeit des Arbeitsmarkts auf die Probe stellen und womöglich den erwarteten Anstieg der Arbeitseinkommen dämpfen.

Vor diesem Hintergrund haben wir unsere Prognosen für das Wachstum in den kommenden zwei Jahren deutlich nach unten korrigiert. Da inländische Puffer dem Verlust an Wachstumsdynamik entgegenwirken, rechnen wir aber immer noch mit positiven Wachstumsraten.

Der Weg in Richtung Zinsnormalisierung

Vor dem Hintergrund der allgemeinen Aussichten werden wir den Prozess der Normalisierung unserer Geldpolitik entschlossen und nachhaltig fortsetzen. Angesichts der nach wie vor bestehenden Unsicherheit kann das Tempo der Zinsnormalisierung nicht im Vorhinein festgelegt werden.

Wie kürzlich in einem Blogbeitrag[10] erläutert, muss ein angemessener geldpolitischer Kurs unsere Grundsätze des Gradualismus und der Optionalität berücksichtigen.

Gradualismus ermöglicht den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern, immer wieder aufs Neue zu beurteilen, wie sich ihre Maßnahmen auf die Inflationsaussichten auswirken. Dies kann in unsicheren Zeiten eine kluge Strategie sein. Optionalität ermöglicht es, umgehend auf aktuelle Daten zur Wirtschaft und zu den Inflationsaussichten zu reagieren und, wenn die Unsicherheit nachlässt, den geldpolitischen Kurs bei Bedarf neu zu optimieren. Es gibt aber durchaus auch Situationen, in denen Gradualismus nicht angebracht wäre. Sollten wir zum Beispiel feststellen, dass infolge der höheren Inflation eine Entankerung der Inflationserwartungen droht, oder sollten wir Anzeichen dafür erkennen, dass ein länger anhaltender Verlust wirtschaftlichen Potenzials die Verfügbarkeit von Ressourcen beeinträchtigt, müssten wir die Akkommodierung schneller zurückfahren, um der Gefahr entgegenzuwirken, dass eine sich selbst verstärkende Spirale in Gang gesetzt wird.

Diese beiden Elemente des geldpolitischen Kurses liegen den Beschlüssen zugrunde, die der EZB-Rat bei seiner Sitzung am 9. Juni 2022 gefasst hat.

Im Einklang mit unserem graduellen Vorgehen haben wir angekündigt, dass wir die Nettoankäufe im Rahmen unseres Programms zum Ankauf von Vermögenswerten am 1. Juli beenden werden und beabsichtigen, auf unserer nächsten Sitzung am 21. Juli unsere drei Leitzinssätze um 25 Basispunkte anzuheben.

Ebenso haben wir bekannt gegeben, dass wir von einer weiteren Leitzinserhöhung im September ausgehen, und dass bei der September-Sitzung ein größerer Zinsschritt angemessen sein wird, „sollten die mittelfristigen Inflationsaussichten unverändert bleiben oder sich verschlechtern“.

Dies spiegelt den Grundsatz der Optionalität wider. Wenn sich die Inflationsaussichten nicht verbessern, verfügen wir dann über ausreichende Informationen für ein schnelleres Handeln. Dies hängt jedoch von den Daten ab.

Dieser Ansatz, der das Tempo der Zinsanpassung an Bedingungen knüpft, sollte nicht mit einem Hinauszögern der Normalisierung verwechselt werden. Da unser geldpolitischer Kurs auf einer klaren Reaktionsfunktion beruht, können sich die Zinserwartungen und risikofreien Zinssätze schon im Voraus anpassen.

Die Anpassung unserer Geldpolitik wirkt schon allmählich auf die Wirtschaft des Euroraums durch. Der €STR-Terminzinssatz in zehn Jahren liegt rund 240 Basispunkte über seinem Niveau vor der Pandemie, ohne dass sich die Leitzinsen bewegt haben. Die realen einjährigen Terminzinssätze in einem Jahr und die fünfjährigen Terminsätze in fünf Jahren liegen rund 100 bzw. 140 Basispunkte darüber.

Der EZB-Rat hat vereinbart, dass über den September hinaus ein „allmählicher, aber nachhaltiger“ Pfad weiterer Zinserhöhungen angemessen sein wird. Zu Beginn jeder Sitzung werden wir überprüfen, wie sich die Schocks entwickelt haben, wie sie sich auf die Aussichten auswirken und wie zuversichtlich wir sind, dass sich die Inflation unserem mittelfristigen Ziel annähert.

Transmission des geldpolitischen Kurses

Damit diese Änderungen unseres geldpolitischen Kurses ihre Wirkung entfalten, müssen wir die ordnungsgemäße Transmission der Geldpolitik im gesamten Euroraum aufrechterhalten.

Die Geldpolitik der EZB erfolgt in einer unvollständigen Währungsunion, in der ihre Politik über 19 verschiedene Finanz- und Staatsanleihemärkte weitergegeben werden muss. Die Renditen dieser Staatsanleihen dienen als Referenzgröße für die Preise aller anderen Vermögenswerte des privaten Sektors in den 19 Mitgliedstaaten – und sorgen so letztlich auch dafür, dass unsere geldpolitischen Impulse einzelne Unternehmen und private Haushalte erreichen.

Reagieren die Risikoaufschläge einiger Länder überstürzt und ungeordnet auf eine zugrunde liegende Änderung des risikofreien Zinssatzes, ohne dass dies durch wirtschaftliche Fundamentaldaten gerechtfertigt ist, sind wir nicht mehr uneingeschränkt in der Lage, unsere einheitliche Geldpolitik umzusetzen. In dieser Situation kann eine Änderung unseres geldpolitischen Kurses eine asymmetrische Reaktion der Finanzierungsbedingungen nach sich ziehen, unabhängig vom Kreditrisiko einzelner Kreditnehmer.

Unter diesen Umständen – wenn also das eintritt, was wir eine ungerechtfertigte Fragmentierung nennen – ist die Gewährleistung der geldpolitischen Transmission eine Voraussetzung dafür, dass die Inflation wieder auf unseren Zielwert zurückkehren kann.

Die Normalisierung unserer Geldpolitik führt naturgemäß zu steigenden risikofreien Zinssätzen und Staatsanleiherenditen. Und da sich die haushaltspolitische Ausgangslage der staatlichen Emittenten im Euroraum unterscheidet, kann die Normalisierung auch zu einem Anstieg der Risikoaufschläge führen.

Um aber die ordnungsgemäße Transmission unserer Geldpolitik im gesamten Euroraum aufrechtzuerhalten, müssen wir dafür sorgen, dass diese Neubewertung nicht durch eine destabilisierende Marktdynamik verschärft und verzerrt wird und so zu einer Fragmentierung unseres ursprünglichen geldpolitischen Impulses führt. Dieses Fragmentierungsrisiko wird auch durch die Pandemie beeinflusst, die in der Wirtschaft des Euroraums länger anhaltende Anfälligkeiten hinterlassen hat. Diese Anfälligkeiten tragen nun dazu bei, dass die Transmission der geldpolitischen Normalisierung über die Länder hinweg uneinheitlich ist.

Die Reaktion des EZB-Rats hierauf geht in zwei Richtungen.

Zum einen werden wir bei der Wiederanlage der Tilgungsbeträge fällig werdender Wertpapiere im Pandemie-Notfallankaufprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme – PEPP) flexibel agieren, um die Funktionsfähigkeit des geldpolitischen Transmissionsmechanismus aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten: Diese Tilgungsbeträge können, soweit erforderlich, innerhalb des Eurosystems an Anleihemärkten von Ländern investiert werden, in denen die ordnungsgemäße Transmission gefährdet ist. Wir haben beschlossen, diese Flexibilität ab dem 1. Juli bei der Wiederanlage der Tilgungsbeträge fällig werdender Wertpapiere im PEPP-Portfolio anzuwenden.

Zum anderen haben wir beschlossen, die zuständigen Ausschüsse des Eurosystems zusammen mit den EZB-Dienststellen damit zu beauftragen, die Gestaltung eines neuen Instruments, das der EZB-Rat prüfen wird, zügiger abzuschließen. Das neue Instrument muss wirksam und gleichzeitig verhältnismäßig sein. Es muss zudem mit ausreichend Sicherheitsmechanismen ausgestattet sein, damit die Mitgliedstaaten weiter eine solide Haushaltspolitik im Blick behalten.

Dieser Beschluss steht im Einklang mit dem bislang von der EZB verfolgten Ansatz. In der Vergangenheit hat die EZB auf separate Instrumente zurückgegriffen, um das Inflationsziel zu erreichen und die Funktionsfähigkeit des geldpolitischen Transmissionsmechanismus aufrechtzuerhalten. Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Transmission konnten bei jedem Zinsniveau ergriffen werden, solange sie so ausgestaltet waren, dass sie den geldpolitischen Kurs nicht beeinträchtigten.

Wenn die Inflation auf ein zu niedriges Niveau fiel, war es sinnvoll, die Instrumente nicht separat, sondern in Kombination einzusetzen, damit alle Instrumente die erforderliche Lockerung unterstützten. Deshalb haben wir beispielsweise die Ankäufe von Vermögenswerten eng mit der Forward Guidance zu den Leitzinsen verknüpft. Da nun aber die hohe Inflation die größte Herausforderung ist, spricht einiges dafür, die Instrumente wieder zu trennen.

Wenn wir die geldpolitische Transmission im Euroraum aufrechterhalten, können die Zinsen so weit steigen wie erforderlich. Insofern besteht kein Zielkonflikt zwischen der Einführung dieses neuen Instruments und dem geldpolitischen Kurs, der zur Stabilisierung der Inflation auf unserem Zielwert erforderlich ist. Vielmehr ermöglicht das eine das andere.

Schlussbemerkungen

Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.

Der Euroraum ist mit einer komplexen Mischung von Schocks konfrontiert, die das Wachstum bremsen und die Inflation nach oben treiben. Vor diesem Hintergrund ist es dringend geboten, dass die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger innerhalb ihres jeweiligen Mandats die Risiken für die Konjunkturaussichten angehen.

Die Fiskalpolitik muss durch gezielte und temporäre Stützungsmaßnahmen dazu beitragen, diese Risiken zu reduzieren. Gleichzeitig muss sie auf mittlere Sicht einem regelbasierten Handlungsrahmen folgen, der sowohl der Schuldentragfähigkeit zugutekommt als auch die gesamtwirtschaftliche Stabilisierung fördert.

Wir sind fest entschlossen, die Inflation auf mittlere Sicht auf 2 % zurückzuführen. Wir haben eine Strategie zur Normalisierung unserer Politik aufgelegt, die es uns erlaubt, agil auf die hohe Inflation zu reagieren.

Und wir werden dafür sorgen, dass die ordnungsgemäße Transmission unseres geldpolitischen Kurses im gesamten Euroraum aufrechterhalten bleibt. Um es mit Leonardo da Vinci zu sagen: „Entschlossenheit bringt jedes Hindernis zu Fall“. Wir werden es mit jedem Hindernis aufnehmen, das eine Gefahr für unser Preisstabilitätsmandat darstellen könnte.

  1. S. Kalemli-Özcan, J. di Giovanni, A. Silva, M. Yıldırım, Global supply chain pressures, international trade and inflation, Beitrag anlässlich des ECB Forum on Central Banking, Sintra, 27.-29. Juni 2022.

  2. H. Bjørnland, The effect of rising energy prices amid geopolitical developments and supply disruptions, Beitrag anlässlich des ECB Forum on Central Banking, Sintra, 27.-29. Juni 2022.

  3. Auf Basis historischer Datenreihen zum Verbraucherpreisindex von Ländern des Euroraums.

  4. A. Fröhling, D. O’Brien und S. Schaefer, “A new indicator of domestic inflation for the euro area”, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 4/2022, EZB.

  5. Zur zunehmenden Bedeutung der Dienstleistungen im Harmonisierten Verbraucherpreisindex siehe R.Baldwin, Globotics and macroeconomics: Globalisation and automation of the service sector, Beitrag anlässlich des ECB Forum on Central Banking, Sintra, 27.-29. Juni 2022.

  6. Allerdings befinden sich 1,1 % der Arbeitnehmer noch in Programmen zur Arbeitsplatzsicherung.

  7. Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer.

  8. International Energy Agency, The Role of Critical Minerals in Clean Energy Transitions, überarbeitete Fassung, März 2022.

  9. F. Kuik, R. Morris und Y. Sun, The impact of climate change on activity and prices – insights from a survey of leading firms, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 4/2022, EZB; G. Bua, D. Kapp, F. Kuik und E. Lis, EU emissions allowance prices in the context of the ECB’s climate change action plan, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 6/2021, EZB.

  10. C. Lagarde, Monetary policy normalisation in the euro area, Der EZB-Blog, 23 Mai 2022.

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