- INTERVIEW
Interview mit Der Standard
Interview mit Philip R. Lane, Direktoriumsmitglied der EZB, geführt von András Szigetvari
13. Jänner 2025
Ist die Inflationskrise in der Eurozone schon vorbei?
Gerade sind die Inflationszahlen publiziert worden, die Teuerungsrate lag im Dezember 2024 bei 2,4 Prozent. Vor einem Jahr lag sie noch bei 2,9 Prozent. Ende 2022 waren es 10 Prozent. Im Vergleich zu diesen Zahlen haben wir große Fortschritte bei der Senkung der Inflation gemacht. Wir sind zwar noch nicht ganz bei 2 Prozent, aber fast. Ein wichtiger Aspekt für uns ist aber, dass die Inflation nachhaltig bei 2 Prozent liegen sollte. Wir hatten einen Rückgang der Energiepreise, der zuletzt dafür gesorgt hat, dass die Gesamtinflationsrate zurückgegangen ist. Das wird sich nicht fortsetzen. Damit wir also unser Inflationsziel von 2 Prozent nachhaltig erreichen können, muss die Teuerungsrate bei den Dienstleistungen im Euroraum weiter zurückgehen von derzeit etwa 4 Prozent.
Was kann die EZB tun?
Wir müssen sicherstellen, dass sich die Zinssätze am Mittelfeld orientieren. Wenn sie zu schnell fallen, wird es schwierig, die Teuerung im Dienstleistungssektor in den Griff zu bekommen. Wir wollen aber auch nicht, dass die Zinsen zu lange zu hoch bleiben, denn dann würde sich die Inflationsdynamik derart abschwächen, dass der Disinflationsprozess nicht bei 2 Prozent haltmachen würde, sondern die Inflation deutlich unter unseren Zielwert fallen könnte. Das ist auch nicht wünschenswert. An den Märkten wird nicht erwartet, dass der Leitzins weiter bei drei Prozent bleiben wird. Ich stimme zu, dass die Richtung klar ist. Woran wir aber in diesem Jahr noch weiter feilen müssen, ist, wie dieses Mittelfeld aussehen kann, damit wir weder zu aggressiv noch zu vorsichtig agieren.
Was bedeutet das konkret? Können Sie uns eine Zahl geben, wo die Zinsen landen werden?
Es wäre nicht klug, unsere künftige Entscheidungsfindung zu erschweren, indem wir uns zu konkreten Zahlen äußern. Wir sind der Ansicht, dass der Inflationsdruck heuer weiter nachlassen wird. Die Löhne in der Eurozone sind in den Jahren 2023 und 2024 kräftig gestiegen. Nach unseren Informationen werden die Gehaltszuwächse 2025 aber deutlich niedriger ausfallen. Damit wird die Inflation weiter zurückgehen.Wir müssen aber auch sicherstellen, dass die Wirtschaft nicht zu langsam wächst, denn dann hätten wir ein neues Problem, nämlich, dass die Inflation sich unter dem Ziel stabilisiert.
Die Financial Times hat vor wenigen Tagen eine Umfrage veröffentlicht, wonach eine große Zahl an Ökonomen denkt, die EZB war zu langsam dabei, die Zinsen zu senken. Diese Experten machen das daran fest, dass die Eurozone nur noch sehr langsam wächst. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Wir haben die Zinsen von 4 Prozent im Juni auf 3 Prozent im Dezember gesenkt. Wir haben die wirtschaftliche Entwicklung selbstverständlich auch im Blick. Wir wollen der Wirtschaft keinen unnötigen Schaden zufügen. Das Wachstum ist einer der wesentlichen Einflussfaktoren für die Inflationsdynamik. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es auch positive wirtschaftliche Entwicklungen gibt. Die Arbeitslosenrate in der Eurozone liegt weiter bei 6,3 Prozent, der Arbeitsmarkt ist also robust. . Wir erwarten eine moderate Erholung der Wirtschaft. . Wir sehen nicht die Art von Rezessionsrisiko, die es erforderlich machen würde, die Lockerung der Geldpolitik massiv voranzutreiben.
Die Situation ist nicht gleich für alle Euroländer. Deutschland und Österreich hinken plötzlich hinterher und wachsen seit drei Jahren gar nicht mehr. Woran liegt das?
Die EZB kann nur auf die Wirtschaftsleistung der gesamten Eurozone reagieren. Wir können die Geldpolitik nicht für die verschiedenen Länder anpassen. Wenn die gesamte Eurozone so sehr leiden würde wie Deutschland und Österreich, würde die Geldpolitik angepasst werden. Einige Länder verzeichnen ein solides Wachstum – Spanien ist unter den größeren Staaten das augenscheinlichste Beispiel. Für die Länder, bei denen dies nicht der Fall ist, müssen wir die Gründe dafür verstehen. Einige Länder sind stärker von der Industrie abhängig, die weltweit vorHerausforderungen steht. Insbesondere die Autoindustrie hat mit großen Herausforderungen zu kämpfen. Doch auch die energieintensiven Industrien haben die Folgen des Krieges zwischen Russland und der Ukraine deutlich zu spüren bekommen.
Wie viel Sorgen macht Ihnen das? Wenn hier eine große Strukturkrise herrscht, werden sich Teile der Eurozone davon lange Zeit nicht erholen.
Es ist wichtig, zwischen zyklischen und strukturellen Problemen zu unterscheiden. Aber wir müssen uns auch klarmachen, dass die beiden Bereiche zusammenhängen. . Zum Beispiel wenn die Industrie vor einer strukturellen Herausforderung steht, während andere Wirtschaftssektoren stärker wachsen, dann können diese Sektoren die Entwicklung ausgleichen. Derzeit sind die Investitionen niedrig. Wenn sich die Investitionstätigkeit aber aufgrund niedrigerer Zinssätze verbessert, kann das auch die strukturellen Probleme entschärfen. Es besteht also in der Tat ein Zusammenhang zwischen zyklischen und strukturellen Faktoren.
Aber verschärft die EZB nicht die Krise: Niedrigere Zinsen könnten die Investitionstätigkeit verstärken. Aber solange die EZB strikt versucht, die Inflation auf 2 Prozent zu bringen, geht das natürlich nicht.
Es besteht kein großer Widerspruch darin, das Inflationsziel von 2 Prozent zu erreichen und sicherzustellen, dass die Wirtschaft schnell genug wächst. Wir müssen die Eurozone nicht in eine Rezession bringen, um unser Ziel von Preisstabilität zu erreichen. Wenn die Wirtschaft nicht schnell genug wächst, werden wir unser Ziel unterschreiten. Für eine Inflation von 2 Prozent braucht es Wirtschaftswachstum und Investitionen. Der Bericht von Mario Draghi zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone ist sehr umfassend. Für viele der vorgeschlagenen Punkte braucht es keine zusätzlichen Ausgaben. Ein zentraler Aspekt ist das Vorantreiben von Reformen. Es geht darum, sicherzustellen, dass die europäische Wirtschaft ausreichend integriert ist, dass Unternehmen einen Heimatmarkt haben, der groß genug ist, damit die größten Unternehmen schnell genug wachsen können. Es gibt auch einen Bereich, wo zusätzliche öffentliche Ausgaben notwendig sind. Aber am wichtigsten ist die Vertiefung des Binnenmarkts.
Aber auch im Draghi-Bericht werden zusätzliche Investitionen gefordert. Nun beginnen viele EU-Länder damit, ihre Budgets zu konsolidieren, weil das so paktiert ist. Sparen wir uns da nicht in die nächste Krise?
Die Defizite der Euroländer liegen im Schnitt bei rund 3 Prozent. Im Jahr 2019 waren es 0,5 Prozent. Wir haben also viel mehr Unterstützung für die Wirtschaft durch die öffentlichen Ausgaben. Die Herausforderungen sind natürlich dennoch groß, wegen der Alterung der Gesellschaft, der grünen Transformation und anfallenden Ausgaben für die Verteidigung. Es wird eine Herausforderung, die Defizite bei rund 3 Prozent zu halten. Aber eine straffe Fiskalpolitik wie vor der Pandemie gibt es nicht.
Aber große Länder wie die USA oder Japan lachen darüber, dass die Europäer versuchen, ihre Defizite bei 3 Prozent zu halten. Diese Länder machen doppelt so hohe Schulden.
Es gibt auch in den USA eine ernsthafte Debatte darüber, ob es sinnvoll wäre, die Defizite zu verringern. Aber zurück zu Europa: Im Draghi-Bericht wird betont, dass die fiskalische Lage weitaus besser wäre, wenn Reformen die Wachstumsrate der Wirtschaft in der Eurozone ankurbeln würden. Im Mittelpunkt unserer Gespräche sollte also stehen, wie Europa schneller wachsen kann.
Welche Reformen in der Eurozone würden das Wachstum anschieben können ohne Mehrausgaben?
Europa hat viele Möglichkeiten, um schneller zu wachsen. Die Hochskalierung ökonomischer Tätigkeiten wird zunehmend wichtiger. Wenn sich die Märkte für Waren und Dienstleistungen durch eine stärkere Integration ausweiten, würde das unserer Wirtschaft helfen.
Ein konkretes Beispiel bitte.
Eines wäre der Energiemarkt, der nach wie vor fragmentiert ist in Europa. Ein einheitlicher Markt wäre effizienter. Ein anderer Bereich ist die Telekomindustrie. In den USA gibt es einige große Anbieter, in Europa gibt es sehr viele Anbieter, die womöglich nicht die notwendige Größe erreichen können. Ein anderer Bereich ist jener der Universitäten: Weil die Forschung so fragmentiert ist in Europa, haben wir nicht die Konzentration, die die USA erreichen, zum Beispiel in Cambridge, Massachusetts oder im Silicon Valley.
Österreichs Wirtschaftsforschungsinstitute sagen wenig Wachstum für die kommenden Jahre voraus, etwa so, wie das zwischen 2010 und 2019 der Fall war. Die Inflationsraten sollen deutlich höher bleiben als in dieser vergangenen Periode. Eine Erklärung dafür: Die Globalisierung ist jetzt anders, billige Produkte aus China spielen nicht mehr so eine große Rolle. Ist das so?
Wir sagen, dass die Eurozone heuer um 1,1 Prozent wachsen wird und 1,4 Prozent im Jahr 2026. Diese niedrigen Raten stellen eine große Herausforderung dar. Ein schnelleres Wachstum in Europa wäre besser. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir die demografischen Realitäten anerkennen müssen. Die Zahl der Menschen, die sich aus dem Berufsleben zurückzieht, nimmt zu. Zugleich rücken weniger junge Menschen nach. Bis zu einem gewissen Grad kann die Migration das ausgleichen. Die Wachstumsraten pro Kopf sind entscheidend. Wir müssen uns Gedanken machen, welche Implikationen diese Entwicklung für die Inflation hat. Wir sind aber der Auffassung, dass einige der Faktoren, aufgrund derer die Inflation vor der Pandemie zu niedrig war, nicht mehr wirken.
Welche sind das?
Neben einigen globalen Faktoren spielt, wie erwähnt, der Beitrag der öffentlichen Hand für die Nachfrage eine Rolle. Der Bankensektor ist nun ebenfalls anders aufgestellt. Vor der Pandemie war die Kreditvergabe sehr schwach in vielen Teilen Europas, jetzt ist das Bankensystem gut kapitalisiert. Von China geht derzeit ein negativer Druck auf die Preise aus. Die chinesische Wirtschaft produziert keine Inflation, im Immobiliensektor findet eine große Anpassung statt und die Exportpreise fallen. Wenn wir die Geldpolitik korrekt ausrichten und kein Abwärtsdruck auftritt, sollten wir aber eine Inflationsrate von mittelfristig 2 Prozent erreichen können.
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