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  • DER EZB-BLOG

Das Gespenst der Inflation

Blogbeitrag von Isabel Schnabel, Mitglied des EZB-Direktoriums

Frankfurt am Main, 14 September 2021

Die Stimmung im Euroraum hellt sich auf. Verbraucher und Unternehmen sehen der Zukunft optimistischer entgegen. Gleichzeitig steigen die Verbraucherpreise schneller. Im August lag die Inflation im Euroraum bei 3%. In Deutschland erreichte sie, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex, mit 3,4% den höchsten Wert seit 13 Jahren. Sie dürfte bis zum Jahresende zunächst weiter steigen.

Diese Entwicklungen bereiten den Menschen verständlicherweise Sorgen. Eine höhere Inflation senkt die Kaufkraft und schmälert die inflationsbereinigten Löhne und Zinserträge. Die sehr niedrigen Nominalzinsen verstärken diese Sorgen. Denn die Privatbanken geben negative Zinsen zunehmend an ihre Kunden weiter.

Eine sachliche Einordnung der jüngsten Preisanstiege und künftigen Risiken ist wichtig, weil gerade in Deutschland Ängste geschürt werden. Da wird von „Weimarer Verhältnissen" gesprochen, und es werden Parallelen zu den 1970er-Jahren gezogen. Ich werde erläutern, dass diese Vergleiche irreführend sind. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die aktuelle Geldpolitik zu permanent höherer Inflation oder gar zu einer Hyperinflation führen wird.

Maßstab und Kompass der Beurteilung der Inflationsrisiken ist unsere neue geldpolitische Strategie, die der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) im Juli einstimmig beschlossen hat. Herzstück ist ein symmetrisches Inflationsziel von mittelfristig jährlich 2%, das unser bisheriges Ziel von unter, aber nahe 2% ersetzt. Das neue Ziel stellt klar, dass wir anhaltende Abweichungen nach oben und nach unten als gleichermaßen schädlich ansehen.

Diese Klarstellung ist wichtig, da wir in den vergangenen Jahren mit einer zu niedrigen statt einer zu hohen Inflation zu kämpfen hatten. Seit der globalen Finanzkrise betrug die Inflation im Euroraum im Schnitt nur 1,2% und in Deutschland 1,3%, also deutlich unter 2%.

Auch eine zu niedrige Inflation stellt eine Gefahr für die Preisstabilität dar. Denn der Rückgang von Inflation und Inflationserwartungen war vor allem Ausdruck der gesunkenen langfristigen Wachstumsaussichten im Euroraum. Die Wirtschaft befand sich in einem Teufelskreis aus einer schwachen Nachfrage, einer geringen Profitabilität der Unternehmen, mageren Lohnsteigerungen und niedrigen Preissteigerungen.

Der Rückgang des langfristigen Wachstums und der Inflationserwartungen führte zu fallenden Zinsen – lange bevor die EZB begann, im Rahmen ihrer Geldpolitik Anleihen zu kaufen. Sind die Zinsen sehr niedrig, kann die Geldpolitik die Wirtschaft in Krisenzeiten nicht mehr in derselben Weise stabilisieren. Denn Zentralbanken können die Leitzinsen nicht beliebig senken – sonst würde es zu einer Umschichtung von Bankeinlagen in Bargeld kommen.

Selbst in der Pandemie, der schwersten Krise der Nachkriegszeit, haben wir die Leitzinsen nicht weiter gesenkt. Stattdessen haben wir die Wirtschaft durch den Ankauf von Anleihen unterstützt. Diese Maßnahmen verhinderten eine schwere Finanzkrise, verbesserten die Finanzierungsbedingungen von Unternehmen und Haushalten und stützen so Wachstum und Inflation.

Aber der langfristige Einsatz solcher Instrumente kann mit Nebenwirkungen einhergehen, da sie direkt in die Funktionsweise der Finanzmärkte eingreifen und auf Dauer falsche Anreize bei Regierungen und Investoren setzen können. Unser neues symmetrisches Inflationsziel kann diese Risiken in der Zukunft begrenzen, indem es ein dauerhaftes Absinken der Inflationserwartungen und somit der nominalen Zinsen verhindert.

Wie wirkt sich unsere neue Strategie auf die Geldpolitik im aktuellen Umfeld steigender Inflation aus? Wir haben zwei Bedingungen für eine Anhebung der Leitzinsen formuliert.

Erstens reagieren wir nicht auf kurzfristige Schwankungen. Die Inflation muss sich dauerhaft bei 2% einpendeln, was trotz der recht hohen Inflationsraten noch nicht erfüllt ist. Wir erwarten, dass sich die Inflation im Euroraum im nächsten Jahr wieder spürbar abschwächen wird. Sie wird zurzeit nämlich wesentlich von statistischen Effekten getrieben. Vereinfacht ausgedrückt ist die Inflation heute vor allem deshalb so hoch, weil sie im Vorjahr so niedrig war. Rechnet man diese Basiseffekte heraus, ist die Inflation weiterhin eher zu niedrig als zu hoch.

Die zweite Bedingung ist, dass wir unser Ziel von 2% in sicherer Reichweite sehen wollen, um eine verfrühte Straffung der Geldpolitik zu vermeiden. Denn das würde erst recht nicht zu einem nachhaltigen Ende der Niedrigzinsen führen. Es würde den beginnenden Aufschwung abwürgen und das Erreichen unseres Inflationsziels erneut infrage stellen.

Gleichwohl beobachten wir sorgfältig, ob wir die Möglichkeit höherer Inflation vielleicht unterschätzen. Drei Entwicklungen erfordern unsere besondere Aufmerksamkeit.

Die erste betrifft die derzeitige Rohstoffknappheit und die Störungen der Lieferketten. Je länger diese andauern, desto wahrscheinlicher ist es, dass Unternehmen steigende Kosten an die Endverbraucher weitergeben.

Zweitens könnten steigende Inflationserwartungen, höhere Lohnabschlüsse und die enormen angesammelten Ersparnisse – mehr als 7% des jährlichen verfügbaren Einkommens – zu einem Konsumschub führen.

Drittens können unsere Modelle die strukturellen Auswirkungen der Pandemie nur schlecht abbilden. Die Pandemie ist – nicht zuletzt über den europäischen Aufbaufonds – zum Beschleuniger der Digitalisierung und der ökologischen Wende geworden.

Selbst in diesen Fällen erwarten wir keine dauerhaft zu hohe Inflation. Aber möglicherweise können wir unser Ziel von 2% früher erreichen. Das wäre eine gute Nachricht für den Euroraum.

Die EZB wird auch in Zukunft die Preisstabilität im Euroraum mit Entschlossenheit wahren. Wir werden anhaltenden Abweichungen von unserem Inflationsziel nach oben und nach unten mit Vehemenz entgegenwirken. So kann es uns gelingen, endlich den Weg aus dem Niedrigzinsumfeld zu ebnen.

Dieser Blogbeitrag erschien zunächst als Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeine Zeitung am 14. September 2021.