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Frankfurt und Europa in einem neuen Jahrzehnt

Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, beim Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt, 16. Januar 2020

Zunächst möchte ich Ihnen allen ein frohes neues Jahr wünschen!

Es ist mir eine große Freude, an diesem Neujahrsempfang teilzunehmen und mit Ihnen, meinen neuen Nachbarn, das neue Jahr willkommen zu heißen.

Sie werden vielleicht enttäuscht oder vielleicht auch erleichtert sein, dass ich heute Abend nicht über Geldpolitik reden werde. Wir befinden uns in der Schweigephase vor unserer EZB-Ratssitzung nächste Woche, in der sich die Ratsmitglieder nicht zu geldpolitischen Themen äußern. 

Frankfurt – eine europäische Stadt

Das Wesen einer jeden Gemeinschaft ist stets dadurch geprägt, wie sie intern organisiert ist und wie sich nach außen gibt. Das gilt sowohl für Unternehmen und Institutionen als auch für Städte und Regionen wie Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet.

Bei meiner Ankunft hier in Frankfurt sind mir sofort die Offenheit, die Dynamik und die Inspirationskraft aufgefallen, die das innere Wesen dieser Stadt ausmachen.

Die Geschichte und Kultur Frankfurts sind überall präsent – die Stadt ist der Geburtsort Goethes, Tagungsort der ersten deutschen Nationalversammlung im Jahr 1848 und Heimat des Apfelweins.

Man spürt aber noch etwas ganz anderes. Frankfurt sprüht vor kreativer Energie, die von den hiesigen Finanzunternehmen, Data Hubs, Start-up-Firmen und Hochschulen ausgeht.

Offenkundig ist auch das Verantwortungsbewusstsein und das Engagement der Frankfurterinnen und Frankfurter für ihre Stadt –was Sie, wie ich höre, das Bürgertum nennen.

Erst kürzlich konnte ich bei einem Besuch des Städel-Museums in Begleitung von Jens Weidmann feststellen, in welchem Maße diese wunderbare Kunstsammlung dem Engagement der Bürgerinnen und Bürger Frankfurts und den zahlreichen Fördervereinen zu verdanken ist.

So bedeutend diese Stadt für Deutschland ist, sie war aber auch immer schon eine europäische Stadt. Einer der Gründe für ihre interne Dynamik ist ihre Offenheit nach außen.

Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – in dem schon damals mehrere Staaten zu einer politischen Einheit verbunden waren – hatte Frankfurt eine große Bedeutung als der Ort, an dem der Kaiser gewählt und gekrönt wurde.

Die Stadt war schon früh ein wirtschaftlicher Knotenpunkt dank ihrer Lage an der einst wichtigsten europäischen Handelsroute, die von Paris über Frankfurt und Leipzig nach Russland führte und zieht seit Jahrhunderten Menschen aus ganz Europa an. Zu ihren bedeutenden Messen kamen Menschen aus dem gesamten Kontinent.

Im Mittelalter kamen nicht weniger als 40 000 Menschen hierher, um ihre Waren zu handeln. Das waren mehr als das damalige „Francofurtia“ Einwohner hatte.

Frankfurt ist außerdem schon seit Jahrhunderten ein wahrhaft europäischer Finanzplatz.

So ging die Entstehung der Frankfurter Börse im späten 16. Jahrhundert auf eine gemeinsame Initiative von Einheimischen und Kaufleuten aus den Niederlanden und Italien zurück.[1] Rund vier von fünf Banken, die derzeit in Frankfurt ansässig sind, kommen aus dem Ausland.

Auch in Kunst und Design hat Frankfurt europaweit Maßstäbe gesetzt.

Vor hundert Jahren verhalf das Projekt „Neues Frankfurt“ – unter der Leitung des Oberbürgermeisters Ludwig Landmann und des Stadtplaners Ernst May – der Stadt zu weltweitem Ansehen als Zentrum avantgardistischer Stadtplanung und Architektur.

Im Rahmen dieses Projekts gestaltete Margarete Schütte-Lihotzky die berühmte „Frankfurter Küche“, eine Innovation, die sich später in der ganzen westlichen Welt wiederfinden sollte.

Frankfurt wird heute also nicht ohne Grund „Europastadt“ genannt.

Frankfurt ist die Stadt des Euro und Sitz der Europäischen Zentralbank, und nach wie vor ein zentraler Knotenpunkt in Europa. Hier befinden sich der verkehrsreichste Flughafen Europas und die größte Messe der Welt.

Und die Stadt ist wirklich international: Fast 30 % der Menschen, die in Frankfurt leben, stammen aus dem Ausland, und weitere 25 % sind Deutsche mit Migrationshintergrund.

Frankfurt ist also erfolgreich, weil es nach innen dynamisch und nach außen hin offen ist, weil es stolz auf seine Geschichte und Traditionen ist, aber gleichzeitig neue Menschen und Ideen willkommen heißt.

Die Stadt ist ein Vorbild dafür, wie uns europäische Zusammenarbeit stärker machen kann. Und dank Ihrer Großzügigkeit und Offenheit ist es kein Wunder, dass ich mich hier sofort zu Hause gefühlt habe.

Als Präsidentin der Europäischen Zentralbank möchte ich, dass meine Institution den Geist dieser Gemeinschaft widerspiegelt und sich aktiv in sie einbringt.

Wir werden offen, transparent und zugänglich sein. Wir werden versuchen, eine Sprache zu sprechen, die jeder versteht. Und wir werden zuhören und ein offenes Ohr für die Sorgen und Bedenken der Bürgerinnen und Bürger haben.

Ein besonderes Anliegen ist es mir, als Präsidentin der Europäischen Zentralbank, die EZB und die Menschen in Europa, also Sie und alle anderen im Euroraum, näher zusammenzubringen.

Die interne und die externe Dimension Europas

Heute ist niemand hier nur Frankfurter oder nur Deutscher oder – wie in meinem Fall – nur Parisienne oder Française. Wir alle in Europa sind Teil einer größeren Gemeinschaft – der Europäischen Union.

Und wir müssen uns entscheiden, wie wir uns intern organisieren und extern aufstellen wollen. Hier wie da sehen wir uns zurzeit mit schwierigen Fragen konfrontiert.

In unseren Ländern werden Stimmen laut, die den Wert der europäischen Integration anzweifeln und die weitere Zusammenarbeit in unserer Union nicht für unbedingt erforderlich halten, um Stabilität und Wohlstand zu gewährleisten.

Auf der ganzen Welt verliert die regelbasierte Ordnung an Bedeutung, erstarken alte und neue Kräfte und wird der Klimawandel zur größten Herausforderung unserer Zeit.

In diesem unsicheren Umfeld könnten wir jetzt einfach am Status Quo festhalten und hoffen, dass wir diese Herausforderungen aussitzen können. Das wird aber nicht funktionieren.

Daher sollten wir uns stattdessen proaktiv und konstruktiv mit der Fragestellung beschäftigen, welches Europa wir uns in dieser neuen Welt wünschen. Meiner Meinung nach müssen wir uns dabei klarmachen, wieviel die europäische Integration uns erstens schon jetzt intern bietet und zweitens, wie viel mehr wir extern erreichen können, wenn wir auf die richtige Art und Weise zusammenarbeiten.

Der Wert der EU-internen Integration ist mehr als ein Betrag in Euro. Europa ist ein Sinnbild dafür, wer wir sind und wer wir sein wollen.

Die EU und der Euro stehen für unser gemeinsames Bekenntnis zu Frieden, Offenheit, Demokratie und Gerechtigkeit. Sie definieren unser Selbstverständnis. Mehr als Zweidrittel der Bürgerinnen und Bürger geben neben ihrer nationalen Identität auch an, dass sie Europäer sind.

Gleichzeitig bringt uns die Integration durch unseren Binnenmarkt konkrete wirtschaftliche Vorteile.

Einer Schätzung zufolge wäre das Pro-Kopf-BIP in der EU heute um ganze 20 % niedriger, wenn es nach dem Krieg keine Integration gegeben hätte.[2] Und es sind unsere gemeinsamen EU-Institutionen, die diese Erfolge sichern, wie die Ereignisse auf internationaler Ebene aktuell zeigen.

Die globalen Handelsspannungen entstehen im Wesentlichen aufgrund eines gefühlten Mangels an Fairness – sei es wegen staatlicher Beihilfen für Industrien, der Untergrabung von Arbeitsstandards oder Währungsmanipulationen.

Aber Europa ist so ausgestaltet, dass all dies bei uns nicht möglich ist.

Das liegt daran, dass wir einen gemeinsamen Gerichtshof geschaffen haben, bei dem Privatpersonen und Regierungen Klage erheben können, wenn sie ungerecht behandelt werden. Wir haben gemeinsame Regeln, die einen Unterbietungswettlauf bei den Standards verhindern. Und wir haben eine gemeinsame Währung, die wettbewerbsbedingte Abwertungen unterbindet.

Unser Wohlstand kommt nicht von ungefähr, sondern ist maßgeblich auf die EU und den Euro zurückzuführen. Sie sind die wesentlichen Voraussetzungen, die unseren Binnenmarkt schützen und dadurch unsere Lebensweise sichern.

Was intern zutrifft, kann auch extern gelten.

Die Zusammenarbeit in Europa stärkt zweifellos unsere Verhandlungsposition gegenüber anderen Ländern. Das wurde beispielsweise bei der Pariser Klimakonferenz vor einigen Jahren deutlich.

In Zeiten, in denen der Multilateralismus in der Krise steckt, wird die Zusammenarbeit in einer Union sogar noch wichtiger. Nur so können Länder mittlerer Größe sich gegenüber großen regionalen Akteuren behaupten und unsere gemeinsamen Interessen verteidigen, wie etwa bei der Festlegung von Standards zum Schutz unserer Privatsphäre und unserer Daten.

Insgesamt entfallen 22 % des weltweiten BIP auf die EU.[3] Nur der Anteil der Vereinigten Staaten ist größer. Der Anteil der EU am Welthandel beläuft sich auf 17 % gegenüber etwa 14 % für die Vereinigten Staaten.

Es liegt auf der Hand, dass wir dadurch auf internationaler Ebene mehr Gewicht haben als ein einzelnes Land, sofern wir unsere starke Marktposition, über die wir als EU gemeinsam verfügen, wirksam einsetzen können.

Für uns Europäerinnen und Europäer bestehen also enorme Möglichkeiten, diese externe Seite unserer Gemeinschaft weiterzuentwickeln.

Das heißt nicht, dass wir unseren europäischen Werten der Inklusivität und der internationalen Zusammenarbeit zuwiderhandeln. Es bedeutet vielmehr, dass wir der Welt gegenüber offen sind, aber selbstsicher auftreten; dass wir allen freundlich begegnen, aber bereit sind, unsere Interessen zu verteidigen, wenn es nötig ist.

Fazit

Ist ein solches Europa möglich? Ich habe keinen Zweifel daran.

Ich bin der Meinung, dass die neuen Führungsspitzen der EU-Institutionen die Zeichen der Zeit erkennen und wissen, dass Europa mehr tun muss. Allen, die in Europa Verantwortung tragen, ist bewusst, dass sich die Welt verändert und wir unsere Ziele neu festlegen müssen.

Wenn wir Fortschritte machen wollen, müssen die Impulse allerdings sowohl von unten als auch von oben kommen. Die europäische Integration muss von der Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger Europas getragen werden.

Das bringt mich zurück zu Frankfurt und zum Rhein-Main-Gebiet.

Ich hoffe sehr, dass Städte, die wie Frankfurt seit jeher eine Vorreiterrolle bei der europäischen Zusammenarbeit gespielt haben, diesen Prozess unterstützen und ihm eine neue Dynamik verleihen können.

Der Beginn dieses neuen Jahrzehnts könnte für Europa der richtige Zeitpunkt sein, ein neues Gesicht zu zeigen. Möglicherweise erwecken wir wieder den Pioniergeist, der diese Region zu einem Zentrum des europäischen Handels, der europäischen Finanzindustrie und europäischer Politik gemacht hat.

Das wird sicherlich nicht einfach sein. Aber wie der berühmte Sohn Frankfurts Johann Wolfgang von Goethe einmal sagte:

„Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.“[4]

  1. [1]Siehe C.-L.Holtfrerich, Finanzplatz Frankfurt. Von der mittelalterlichen Messestadt zum europäischen Bankenzentrum, 1999.
  2. [2]H. Badinger (2005), Growth Effects of Economic Integration: Evidence from the EU Member States, Review of World Economics, Bd. 141, Nr. 1, S. 50-78.
  3. [3]In nominaler Rechnung.
  4. [4]J. W. von Goethe, Curt Noch (Hrsg.), Goethes sämtliche Werke, Bd. 41, Propyläen-Verlag, Berlin, 1909-1931.
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