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Die Stunde Europas

Beitrag von Benoît Cœuré, Mitglied des Direktoriums der EZB, veröffentlicht in der Börsen-Zeitung, 12. September 2017

Im vergangenen Jahr erfuhren die Globalisierung und die internationale Zusammenarbeit herbe Rückschläge. In Europa wurden die Europäische Union und ihre vier Freiheiten in Frage gestellt. Seitdem haben ein höheres Wachstum, ein Rückgang der Arbeitslosigkeit und bessere Wirtschaftsaussichten dazu beigetragen, dass sich die Einstellung der Bürger und Bürgerinnen gegenüber der EU wieder spürbar verbessert hat. So fühlen sich laut der neuesten Eurobarometer-Umfrage inzwischen mehr als zwei Drittel der Europäer als EU-Bürger – der höchste Wert, der je bei diesem Indikator erreicht wurde. Die Unterstützung für den Euro hat ebenfalls einen Rekordstand erreicht, und eine zunehmende Zahl von Europäern sieht die Zukunft der EU optimistisch.

Dieser Stimmungswandel hat sich auch in den Wahlergebnissen niedergeschlagen: In mehreren Mitgliedstaaten der EU haben antieuropäische Kräfte in den letzten Monaten eine herbe Niederlage erlitten. Getragen von einem gemeinsamen Bekenntnis zur Demokratie und zu den Werten einer offenen und freien Gesellschaft scheint sich ein neues Gefühl von Einheit und Vertrauen auf dem Kontinent auszubreiten. Eine neue deutsch-französische Offensive weckt zudem bei vielen Menschen die Hoffnung, dass das europäische Projekt nach Jahren der Stagnation wieder greifbare Fortschritte macht.

Diesen Moment sollten und müssen wir nutzen, um Europa weiter voranzubringen. Tun wir dies nicht, so könnte der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt in der EU früher oder später erneut gefährdet sein. Es ist daher Zeit, dass Europa die Gunst der Stunde nutzt – und sie zur Stunde Europas macht.

Der Grund zum Handeln liegt auf der Hand: Trotz des ermutigenden Stimmungswandels sind die grundlegenden Ängste der Menschen vor einer offenen Wirtschaft und der EU keineswegs verschwunden. Aber die EU kann eine Antwort auf die Ängste geben, von denen sie bedroht wird – vorausgesetzt, die Entscheidungsträger sind gewillt, die richtigen Schlussfolgerungen aus der vergangenen Krise zu ziehen. Drei grundlegende Sorgen treiben die Menschen in Bezug auf die Globalisierung und die EU.

Die erste Sorge betrifft die Stabilität – die Frage, ob die Globalisierung die Länder anfälliger für internationale Finanzkrisen gemacht hat. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1980 erlebte im Durchschnitt rund 1 % aller Länder weltweit in irgendeinem Jahr eine Bankenkrise. Von 1980 bis 2008 waren es 20 %.

Die zweite Sorge betrifft die Fairness. Halten sich alle Länder an dieselben Regeln und wenden sie dieselben Standards an? Diese Sorge ist weltweit festzustellen, z. B. in Bezug auf Dumpingpraktiken oder Unterbietungswettläufe. Ähnliche Bedenken sind in Europa hinsichtlich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern aufgekommen.

Die dritte Sorge betrifft die Gerechtigkeit. Viele vertreten die Auffassung, dass offene Märkte das Kapital und Reiche zulasten von Arbeitern und Armen begünstigen. Tatsächlich ist laut OECD die Lohnquote in den wohlhabenden Ländern für die unteren 99 % der Einkommensbezieher in den letzten 20 Jahren gesunken, für das obere 1 % jedoch um 20 % gestiegen.

Natürlich beruhen einige dieser Sorgen mehr auf Wahrnehmungen als auf Fakten. Eine größere Anfälligkeit für finanzielle Schocks oder ein sich vergrößerndes Einkommensgefälle können beispielsweise auf mehrere Faktoren zurückzuführen sein, unter anderem auf technologische Veränderungen. Aber immer mehr empirische Studien legen den Schluss nahe, dass die Globalisierung wohl einige der langfristigen Trends, die dazu geführt haben, dass Menschen der wirtschaftlichen Integration mit zunehmender Skepsis und mitunter Angst begegnen, verstärkt hat.

Es gibt daher zwei Möglichkeiten, um auf diese Herausforderungen zu reagieren: den Rückzug auf nationale Grenzen oder eine gemeinsame multinationale Lösung. Die erste Option ist aus zwei Gründen zum Scheitern verurteilt. Erstens raubt sie den Bürgerinnen und Bürger die unumstrittenen wirtschaftlichen Vorteile, die Handel und Integration mit sich bringen. Zweitens führt die Globalisierung dazu, dass einzelnen Ländern, so sehr sie sich auch isolieren, weniger politische Instrumente zur Verfügung stehen, mit denen sie auf die Herausforderungen der Globalisierung reagieren können.

Indem die Globalisierung beispielsweise Spielraum für Arbitrage zwischen den Ländern schafft, erschwert sie die Regulierung und Beaufsichtigung der Finanzmärkte und die Vermeidung wiederkehrender Krisen. Und indem sie die Steuerbasis mobiler macht, schwächt sie die Fähigkeit der Staaten, die erforderlichen Mittel zu generieren, um Einkommen zu unterstützen und Menschen umzuschulen, die durch den globalen Wettbewerb ihre Arbeit verloren haben.

Hier bietet die EU – ein Mikrokosmos der Globalisierung – eine Lösung für die Ängste und Sorgen der Menschen. Dies ist die zweite Option. Die EU kann der Politik die Kontrolle über die Globalisierung zurückgeben, indem sie dafür sorgt, dass die Politik besser auf ihre wirtschaftlichen Grenzen abgestimmt ist. Sie bietet ihren Mitgliedstaaten eine einzigartige Plattform für die Wiedererlangung einiger staatlicher Funktionen, die durch die Globalisierung abgebaut wurden.

Nehmen wir die Sorge bezüglich der Stabilität. Wenngleich die EU – und vor allem der Euroraum – von einer schweren Finanzkrise und Fragmentierung betroffen war, reagierte sie darauf, indem sie neue und bessere Institutionen auf dem europäischen Markt schuf, insbesondere durch die Bankenunion. Durch eine bessere Abstimmung unserer politischen und wirtschaftlichen Grenzen war es möglich, die Fragmentierung rückgängig zu machen und die Steuerzahler besser zu schützen. Auf globaler Ebene ist dies trotz aller Bemühungen des Basler Ausschusses nicht zu erreichen.

Wo auf globaler Ebene Einigung erzielt werden konnte – vor allem bei der Reform der internationalen Finanzmarktregulierung – setzt sich die EU nachdrücklich dafür ein. Es ist ihr seit jeher ein Anliegen, die finanzielle und wirtschaftliche Stabilität durch Einhaltung der gemeinsam vereinbarten Regeln und Werte zu wahren. Es wird keine Rückschritte und keinen regulatorischen Wettlauf nach unten geben.

Dasselbe gilt für Sorgen bezüglich der Fairness.

In den EU-Mitgliedstaaten sorgt das einheitliche Regelwerk, das von europäischen Gerichten durchgesetzt wird, für größtmögliche Sicherheit, dass ein fairer Wettbewerb herrscht. Es gibt sogar starke positive externe Effekte: Da Unternehmen, die in die EU exportieren, die dort geltenden Standards erfüllen müssen, stellen Skaleneffekte für sie einen Anreiz dar, EU-Standards auf ihre gesamte Produktionskette anzuwenden. Dies wird als „Brüssel-Effekt“ bezeichnet. Anstatt zuzulassen, dass die Globalisierung zu einem unvermeidlichen Abwärtswettlauf führt, kann die EU mit ihrer Regelungsbefugnis dafür sorgen, dass ein Aufwärtswettlauf in Gang gesetzt wird. Dies kann der Globalisierung auf lange Sicht nur gut tun.

Was die Gerechtigkeit und die Verteilungseffekte des offenen Marktes anbelangt, so stellen diese Aspekte vor allem die nationalen Sozialsysteme vor Probleme. Doch auch hier kann die EU eine Rolle spielen.

In der Gewissheit, dass kein Großunternehmen – nicht einmal ein Gigant wie Apple – drohen kann, dem weltgrößten Markt gänzlich den Rücken zu kehren, setzt die Kommission bereits wettbewerbspolitische Instrumente ein, um beispielsweise möglicher Steuerarbitrage durch multinationale Unternehmen zu begegnen. Mit der vorgeschlagenen Gemeinsamen Konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage könnten zudem Möglichkeiten eliminiert werden, durch das Verschieben von Gewinnen innerhalb Europas Steuern zu vermeiden.

Mit anderen Worten: Trotz all ihrer Fehler ist die EU in einer globalisierten Welt ein echter Gewinn für ihre Mitgliedstaaten. Sie ist das fortschrittlichste Modell, das wir haben, um den Bedenken der Menschen in Bezug auf offene Märkte und fairen Wettbewerb zu begegnen – Bedenken, die einzelne Länder allein nicht ausräumen könnten.

Für die Zukunft bedeutet dies zweierlei:

Erstens müssen wir fortwährend überprüfen, ob unsere bestehenden Institutionen für die Bewältigung gemeinsamer globaler Herausforderungen geeignet sind. Trotz lobenswerter Fortschritte könnten die wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen für Haushalte und Unternehmen in allen Mitgliedstaaten noch erheblich verbessert werden. Wir sollten nicht der falschen Vorstellung erliegen, dass die aktuelle Konjunkturerholung alle Wunden heilen wird. Indem wir dafür sorgen, dass unsere Institutionen zweckmäßig sind, unterstützen wir die Mitgliedsländer dabei, eine nachhaltige Erholung zu erzielen, ihre komparativen Vorteile auszunutzen, ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Schocks zu erhöhen und von einem größtmöglichen Wohlstand durch den Binnenmarkt zu profitieren.

Zweitens sollten wir nicht länger damit warten, wie bei der Bankenunion eine ernsthaftere Debatte über eine stärkere Integration und neue Institutionen zu führen. Dies ist vor allem zum Schutz der Integrität der EU und insbesondere des Euroraums erforderlich.

Damit ein vereintes Europa bessere Ergebnisse bei der Bewältigung gemeinsamer globaler Herausforderungen erzielen kann, sind Fortschritte in beiden Bereichen nötig: eine Verpflichtung zur Stärkung unserer bestehenden Institutionen und eine klare Vision für eine stärkere Integration. Damit würden wir auch das Versprechen einlösen, das wir bei der Gründung der EU gegeben haben: dass die EU Wohlstand und Chancen bringt.

Dass sich die europäischen Staats- und Regierungschefs allmählich mit diesen drängenden Fragen befassen, ist ermutigend. Jetzt muss die Diskussion nur noch zu konkreten Ergebnissen führen, damit dies wirklich die Stunde Europas werden kann.

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